Die Perspektive der Humanistischen Psychologie Skript eines Vortrags an der Universität St. Gallen im Wintersemester 1998/99 im Rahmen der Vortragsreihe "Psychotherapie: Die Vielfalt der therapeutischen Konzepte" In der Ankündigung dieser Vorlesungsreihe steht, dass eine besonders zentrale Frage bei den verschiedenen Denkmodellen zur Psychotherapie die ist, "in welcher Weise diese theoretischen Ansätze in ihrer Entstehung auf zentrale Themen zeitgenössischen Denkens bezogen waren, wie sie innerhalb ihres Paradigmas weiterentwickelt wurden und dabei ihrerseits das Denken in ihrer Zeit und bis in die Gegenwart beeinflusst haben." Mit diesen Themen will sich der folgende Vortrag befassen. Inhaltsübersicht: - Wörter und Begriffe
- Was ist die Humanistische Psychologie?
- Historisches Umfeld
- Personen und Therapierichtungen im humanistischen "mainstream"
- Menschenbild und programmatische Aussagen
- Psychotherapie und die therapeutische Beziehung
- Die Perspektive der Humanistischen Psychologie
- Wörter und Begriffe
Am heutigen Abend beschäftige ich mich mit der Perspektive der Humanistischen Psychologie. Ich möchte beginnen mit einem Zitat aus einem Essay von Hartmut von Hentig: "Den Zustand der Menschen und Kulturen erkennt man an ihren Heilswörtern", sagt Hentig, und das sind seiner Meinung nach: "...Wörter, die man in der jeweiligen Epoche gebrauchte als Richtmass für die Vorstellung vom ihr aufgetragenen Leben ..., in der Richtung, in die die Wörter wiesen, hat man Erfüllung oder Rettung gesucht" . (Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, 1998, S.9) Diese hier auf den Begriff "Kreativität" bezogenen Bemerkungen können wir auch versuchsweise auf Begriffe der Psychologie und der Psychotherapie anlegen und zu entschlüsseln versuchen, was in ihnen enthalten sein könnte an Hoffnung, Verheissung oder Richtungsweisung, wohin denn eine Gesellschaft möchte, die diese Wörter verwendet. Wir haben an den beiden letzten Vortragsabenden psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Wörter gehört. Mittlerweile sind ja alle Bereiche der Psychotherapie stark der Popularisierung unterworfen. In den Medien finden wir Begriffe, die ursprünglich in einem psychologischen Kontext oder in einem psychotherapeutischen Modell per Konsens gebildet wurden, konstruiert als Beschreibungs- oder Ordnungsversuch, die aber mittlerweile unhinterfragt so benutzt werden, als ob sie eine tatsächlich bestehende "Wirklichkeit" abbilden würden. Erinnern wir uns an Begriffe, die aus dem Vokabular der Tiefenpsychologie stammen: unbewusst - ödipal - Über-Ich - Ich - Es- Abwehr - Widerstand - verdrängen - Archetyp - kollektives Unbewusstes - Ödipuskomplex - Libido - Trieb - Triebabfuhr - Übertragung und Gegenübertragung....... Das sind Fachbegriffe, aber es verbinden sich populäre Vorstellungen damit, z.B. dass die Triebe sich entladen müssten, sonst werde man krank, dass Verdrängtes an die Oberfläche kommen müsse und dort durchgearbeitet wird, dass man im Widerstand sei und seine Abwehr aufgeben müsse... Häufig haben wir auch Vorstellungen und Bilder, wie denn so eine Therapie abläuft. Bei der Psychoanalyse hat eine Befragung ergeben, dass die meisten Befragten sich eine weibliche Klientin auf der Couch bei einem älterem vertrauenswürdigen weissbärtigen Analytiker vorstellen... Welche Begriffe haben wir übernommen aus den Verhaltens - und kognitiven Therapien? Lernen - blackbox - Reiz-Reaktion - die feed-back-Schlaufe - Desensibilisierung - Symptomverschiebung - Konditionierung - Modellernen - Input-Output.... In besagter Befragung stellten sich die Leute unter einer Verhaltenstherapie vor, dass ein junger eifriger Mann mit Brille jemandem etwas beibringt, dass man sich z.B. Schlangen nähern muss oder Aufzug fahren lernen oder seine Flugangst überwinden. Und was für Begriffe und Vorstellungen geistern über die Humanistische Psychologie herum, mit der wir uns heute abend befassen wollen? Ich reihe einmal Wörter und Begriffe aneinander, die Sie wiedererkennen werden: Ganzheitlich - erleben - möglichst noch authentisch - Selbsterfahrung -Besinnung - sich selbst verwirklichen - spüren - Wachstum - Gruppen - Körper - aus dem Bauch, nicht aus dem Kopf - wie fühlt sich das an? - Wenn ich so in mich hineinspüre - das stimmt so (nicht) für mich - hmhm, aha, ach so ist das.... das ist nicht mein Problem - Hier und Jetzt - Encounter - Workshop - heisser Stuhl - was macht das jetzt mit Dir - unerledigte Geschäfte - eine nicht geschlossene Gestalt - Achtsamkeit.... Und in der Befragung stellte man sich Gruppen vor, Körper, anfassen gar, weinen, zittern und schreien, auf Kissen schlagen, Massagen. Oder das Zerrbild der klientenzentrierten Therapie: ein nickender freundlicher Mensch, der höchstens hm hm sagt und ansonsten wie ein Papagei alle Sätze seines Gegenübers wiederholt. Hoffnung? Verheissung? Rettung? Beginnen wir mit der Klärung des Begriff "humanistisch", hinter dem sich all diese Vorstellungen verbergen. Er hat eine grosse Bedeutungsvielfalt . Etymologisch gesehen stammt er ab von human: menschlich, menschenfreundlich, menschenwürdig. Aber auch: irdisch, von humus, Erde, Erdboden. Er kann bedeuten: - humanitär/menschlich, also auf das Wohl des Menschen gerichtet, in der Nähe von hilfsbereit, gemeinnützig, wohltätig. Der Gegenbegriff wäre "inhuman".
2. im Sinne der Philosophie des Humanismus ( der dritten der grossen Geistesbewegungen neben Renaissance und Reformation, einführend in die abendländische Neuzeit nach der Geisteshaltung des Mittelalters, mit deutlichem Rückgriff auf die Antike): Studium des Menschen, seiner Leistungen und Interessen. Beschäftigt mit spezifisch menschlichen Bedingtheiten und Werten und speziell menschlichen Errungenschaften, Werten, Zielen, Themen wie Liebe, Selbstbewusstheit, Selbstreflexivität, persönliche Freiheit, Verlangen, Macht, Moral, Ethik, Kunst, Philosophie, Religion, Literatur, Kultur, Musik, Glück, Freiheit. Ein Humanist ist also ein Kenner, der sich mit den spezifischen geistigen Leistungen des Menschen auseinandersetzt. Das Gymnasium Typ A (alte Sprachen) kommt aus dieser Tradition. Den Begriff "humanistisch" hat die Gruppierung, welche die Humanistische Psychologie entwickelt hat, selbst gewählt, er wurde ihr nicht von aussen zugeschrieben. - Was ist die Humanistische Psychologie?
Dass sich der dritte Abend dieser Vorlesungsreihe nach der Tiefenpsychologie und der Verhaltenstherapie nun der "Humanistischen Therapie" widmet, ist historisch zu verstehen, also in der Reihenfolge des "Auftretens" dieser Richtung, sie ist chronologisch "jünger" als die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie. Allerdings gab es da keinen sanften Übergang, keine Stabübergabe, keine friedliche Parallelentwicklung oder ein Weiterentwickeln der vorgefundenen Ideen. Nein, als 1961 die AHP (Association for Humanistic Psychology) in Amerika gegründet wurde (sie war trotz europäischer Einflüsse eine spezifisch amerikanische Erscheinung), war sie vor allem eine Protestbewegung, nicht nur eine Ergänzung, sondern eine ausgesprochene und deutlich formulierte Abgrenzung zu den beiden vorgenannten Richtungen. Sie verstand sich als "Dritte Kraft". In ihren zentralen Anliegen war sie vor allem Protest, vor allem Gegenbewegung. Das liest sich dann etwa so: "Die Idee der Gestalttherapie ist es, aus Papiermenschen wirkliche Menschen zu machen. Ich weiss, ich nehme den Mund ziemlich voll. Es ist die Idee, den ganzen Menschen unserer Zeit zum Leben zu erwecken und ihn zu lehren, wie er seine inneren Kräfte nutzen kann, um ein Führer zu sein, ohne ein Rebell zu werden, eine Mitte zu haben und nicht Hals über Kopf zu leben. Die Ideen klingen alle ziemlich herausfordernd, aber ich bin überzeugt, dass es möglich geworden ist, sie zu erfüllen, dass wir nicht Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte auf der Couch liegen müssen, ohne uns wesentlich zu verändern." (Fritz Perls) Diesen Ton treffen wir vor allem in der Anfangszeit der Bewegung an: keine trockene Auseinandersetzung mit Wirksamkeitsphänomenen oder Wissenschaftlichkeit, mit viel Schwung und Eifer wird, meist in Abgrenzung zur herrschenden Psychologie, ein neues Menschenbild vertreten. Das hören wir z.B., wenn Maslow über die herrschende Psychologie schreibt und anschliessend programmatisch fordert: "Psychologie sollte: ... - mehr mit den Problemen der Menschheit und weniger mit den Problemen der Berufsvereinigungen beschäftigt sein, - mutiger, kreativer, nicht nur vorsichtig und bedacht sein, Fehler zu vermeiden, - das menschliche Wesen nicht nur als passive Hülle sehen, hilflos bestimmt von äusseren Kräften. Der Mensch ist oder sollte ein aktiver, autonomer, selbstbestimmter Handelnder, Wählender und Zentrum seines eigenen Lebens sein. oder enthusiastisch: "Eine neue Konzeption der menschlichen Krankheit und der menschlichen Gesundheit beginnt sich am Horizont abzuzeichnen, eine Psychologie, die ich für so aufregend und so voll von wunderbaren Möglichkeiten halte, dass ich der Versuchung nachgebe, sie öffentlich darzulegen, noch bevor sie geprüft und bestätigt ist und bevor man sie als zuverlässige wissenschaftliche Erkenntnis bezeichnen kann." (A. Maslow) Thomas Kuhn schreibt: "Die Attraktivität eines neuen Paradigmas liegt eher in den Hoffnungen, die es erweckt" und "Eine sich entwickelnde Denkrichtung ist anfangs in erster Linie eine Erfolgsverheissung" So war es auch bei der Humanistischen Psychotherapie. C. Historisches Umfeld Wir wollen also in einem nächsten Schritt zu verstehen versuchen und uns vergegenwärtigen, was in der damaligen Zeit los war, worauf die Vertreter der Humanistischen Psychologie trafen und wogegen und wofür sie sich einsetzten. Die politisch/gesellschaftliche Situation ab den 20er Jahren in Amerika in Stichworten: Nach der wirtschaftlichen Depression ab 1929 große Arbeitslosigkeit (jeder 4. Amerikaner!): schwierig fürs Gründerzeit-Selbstbewusstsein, Flaute, Krise. Ära Roosevelt ab 1933, New Deal: Konzept einer Entwicklung in Richtung grösserer sozialer Gerechtigkeit. Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise, neue Aufbruchsstimmung, Aufschwung und Erneuerung, wieder hin zu positiven Werten. Die Psychologie blühte, Testpsychologie, Behaviorismus, logischer Positivismus, Pragmatismus. Publikationen. Seit den 20er Jahren Popularitätsschub, 1923 erstes populäres psychologisches Magazin, psychologische Kolumnen in Zeitungen, Hilfe für den Tagesbedarf, trivialisiert, Wunsch nach Bewältigung der menschlichen Psyche, Witze in Zeitungen. Immigranten der Gestaltpsychologie und Psychoanalyse. Nachkriegs-Ära: Aufschwung der klinischen Psychologie, Kriegsveteranen- Arbeit - Gruppen, (erstmals in Gruppen!), Trainingsprogramme, Pharmazie-Boom. 60er Jahre: Protest und Gegenkultur, Vietnamkrieg, Bürgerrechtskämpfe, soziale Ungerechtigkeit. Veränderung des Rollenbewusstseins: Black Power, Frauenbewegung, Beat-und Hippie-Bewegung. Hohes Spannungspotential, Frage nach der Natur des Menschen. Was fand die Humanistische Psychologie in ihrem Berufsfeld vor? Einerseits die strikt medizinisch ausgerichtete Psychiatrie, die erstarkte klinische Psychologie, andererseits die VertreterInnen der Psychoanalyse, mittlerweile schon in der 2. Generation, und die erstarkende Richtung des Behaviorismus, der Verhaltenstherapie. In einer ersten Revolution hatte der Behaviorismus die akademische Psychologie erschüttert. Als Reaktion auf die exzessive Beschäftigung der Psychologie mit Bewusstsein und Introspektion entfernte er alle subjektiven Begriffe, nur das sichtbare Verhalten zählte, die Reiz-Reaktions-Kette. Dadurch hat die angewandte Psychologie viel gewonnen, die Arbeit wurde quantifizierbar, kontrollierbar, im Labor war die Nähe zu den Naturwissenschaften gewährleistet. Allerdings wurde systematisch die subjektive Seite des Bewusstseins und die Komplexität der Entwicklung ausgeschlossen, sie war zu privat und störte die Objektivität. Die zweite Revolution, die der Psychoanalyse, bestand demgegenüber auf der Dynamik des inneren Milieus in Form von Trieben. Sie behauptete die Wirkung eines unbewußten Bereichs, der das bewusste Leben und Handeln determiniere, und die permanente Anwesenheit von Konflikten zwischen Trieben untereinander und mit Kultur und Gesellschaft. Bewusstsein sei lediglich ein Oberflächenphänomen. Nicht Herr im eigenen Haus
zu sein, war eine aufrüttelnde Idee. Sowohl die Psychoanalyse als auch die VT hatten also in einer Gegenbewegung gegen die Überbetonung des Bewusstseins in der Psychologie des 19. Jahrhunderts zwar andere Zugänge stark gemacht (die Tiefenpsychologie durch die Proklamation des Unbewussten, die VT durch die Akzentsetzung auf Handeln und Verhalten), beide Richtungen hielten aber eine Variante des Determinismus aufrecht (einen umweltbedingten oder einen psychogenetischen), waren also in den Augen der Humanistischen Psychologie pessimistisch und gaben wenig Raum für die Vorstellung von Spontaneität, Kreativität, Freiheit und Verantwortung. Die VertreterInnen der Humanistischen Psychologie, obwohl die meisten von ihnen durchaus in diesen Denkrichtungen selber geschult waren, wendeten sich vehement gegen mechanistische Verfahren, gegen die Reduktion auf naturwissenschaftliche experimentelle Techniken und gegen kausal-deterministische Auffassungen vom Menschen. Als Teil einer umfassenden Gegenkultur, einer sozialen Bewegung, einer Gegenbewegung zu Etabliertem und zu den vorherrschenden Lehrgebäuden der Psychoanalyse und der VT wollten sie als "Dritte Kraft" ein anderes Anliegen vertreten, nämlich "durch wissenschaftliche und praktisches Handeln ihren Beitrag zur Entwicklung einer menschengerechteren und menschenwürdigeren Umwelt zu leisten und Lebensverhältnisse zu schaffen, welche sowohl die persönliche Entfaltung des einzelnen als auch seine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft fördern" (Völker 1980) Charlotte Bühler schreibt 1979: "Die wissenschaftlichen Aspekte... sind es nicht, die der Humanistischen Psychologie Massen an Anhängern brachten. ... aber mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Menschen, die von der Humanistischen Psychologie angezogen wurden, eher einer Bewegung beigetreten sind als einer Wissenschaft. Wegen ihrer Sensibilität gegenüber den von der traditionellen Psychologie negierten Bereichen ... suchen viele Menschen in der Humanistischen Psychologie eine Lösung für die Probleme unserer Zeit: ein sinnvolleres Leben zu leben und befriedigendere Beziehungen zwischen Menschen in dieser Welt zu bilden ... ein Verständnis für sich selbst und für seine Einstellungen zum menschlichen Leben; ... eine grundlegende Verbesserung von Einstellungen der Menschen zueinander..."
Die Humanistische
Psychologie war also anfangs ein eher heterogenes Sammelbecken unabhängig
voneinander entwickelter und ausdifferenzierter Ansätze, ein lockerer
Verbund. Erst 1961 wurde formell die Gesellschaft AHP gegründet
und eine Zeitschrift (Journal of Humanistic Psychology) herausgegeben.
Die Gesellschaft wuchs schnell, wurde international und hatte in den
70er Jahren schon 6000 Mitglieder. Wachstumszentren entstanden (Esalen),
der Psycho-Boom, die Human Potential Bewegung, das New Age breiteten
sich aus, von der AHP anfangs unkritisch/grosszügig (je nach Sichtweise)
unterstützt, die "Vierte Kraft", die transpersonale Psychologie,
begann sich zu formieren..
- Personen
und Therapierichtungen im humanistischen "mainstream"
Charlotte Bühler
Abraham Maslow
die Gestalttherapie:
Fritz und Laura Perls, Paul Goodman
die klientenzentrierte
Therapie: C.R.Rogers (er war Gründungsmitglied 1962)
Focusing: Eugene
Gendlin
Psychodrama: J.L.
Moreno
Logotherapie: Viktor
Frankl: (von ihm stammt der Begriff Encounter)
Körperpsychotherapie:
Wilhelm Reich und seine Nachfolger, von manchen Chronisten dazugezählt,
obwohl sie von der Modellbildung her psychoanalytisch dachten
Es gibt auch philosophische
Wurzeln, eine reiche historische Tradition, der humanistische Ansatz
war von seiner Idee her sowieso fächerübergreifend, interdisziplinär.
Aus Europa immigrierte
Vertreter der Gestaltpsychologie waren psychologische Wegbereiter, ebenso
Personen aus den Bereichen Humanismus - Existentialismus - Hermeneutik
- Phänomenologie.
Vielleicht auch
hierzu ein paar Namen:
Existentialismus
(Buber, Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Binswanger)
Phänomenologie
(Husserl, Scheler)
sozialer Humanismus
(Marx)
franz. Humanismus/Existentialismus
(Merleau-Ponty, Sartre, Camus)
Gestaltpsychologe
(Köhler, Lewin, Goldstein)
- Menschenbild
und programmatische Aussagen
Fünf der Grundpostulate
der Humanistischen Psychologie will ich hier anführen, sie stammen
aus der Präambel der AHP, verfasst 1964 von ihrem ersten Präsidenten,
Bugental ( die "Heilswörter" sind fettgedruckt!).
1. Das menschliche
Wesen ist mehr als die Summe seiner Teile. Diese Formulierung stammt aus
der Gestaltpsychologie. Es bedeutet, dass trotz der Wichtigkeit der Kenntnis
seiner Einzelfunktionen die Einzigartigkeit des Menschen als Ganzheit
und Organismus Vorrang hat.
Ganzheit oder Ganzheitlichkeit
sind wichtige philosophische Annahmen. Der Mensch (wie jedes lebendige
Wesen, jeder Organismus, heute würden wir sagen: wie jedes lebendige
System) ist eine Einheit, der übliche Leib-Seele-Dualismus resp.
die Trennung zwischen Materie und Geist oder Vernunft und Gefühl
haben in dieser Auffassung keinen Platz. Gleichzeitig können die
"Einzelteile" nicht additiv zusammengesetzt werden, das Ganze ist immer
mehr als die Summe der Teile. Praktisch heisst das, dass in der Humanistischen
Psychotherapie immer "integrativ" gearbeitet wird, "ganzheitlich", die
Person immer als Ganzheit in ihren Lebensbezügen verstanden wird.
Folgerichtig wird auch mit allen Lebensäusserungen des Gesamtorganismus
gearbeitet (sprechen, denken, fühlen, körperlich empfinden usw.),
es gibt keinen Ausschluss einer bestimmten Funktion (z.B. des Körpers)
und ein Sich-Beschränken auf andere (z.B. Reden).
- Menschliches
Existieren vollzieht sich in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Die Humanistische Psychologe studiert den Menschen in seinem zwischenmenschlichen
Potential, als soziales Wesen und nicht isoliert von seinen sozialen
Bezügen.
Ein deutliches Gewicht
liegt in der Humanistischen Psychotherapie auf Beziehung und Begegnung,
auf dem Miteinander. (Buber: "Alles wirkliche Leben ist Begegnung"). Leben
vollzieht sich immer im zwischenmenschlichen Feld, Menschen sind unauflösbar
eingebunden in soziale Bezüge, in das Spannungsfeld zwischen Individualität
und Beziehungsangewiesenheit. Seit Rogers 1940 gefordert hat: "Beziehung
ist Therapie", wird auf die Beziehungsgestaltung im Dialog, in der Gruppe,
im Encounter speziellen Wert gelegt.
3. Der Mensch
lebt bewusst. Ein Wesensmerkmal des Menschen ist es, dass er bewußt
erleben kann, dass er Bewußtheit über sich selbst (Selbstbesinnung)
erreichen kann, unabhängig davon, wieviel dem Bewußtsein jeweils
zugänglich ist. Diese Möglichkeit des bewußten Erlebens
ist Grundlage und Voraussetzung dafür, menschliche Erfahrungen
(eigene und fremde) überhaupt verstehen zu können
Erleben und Erfahrung
in Bewusstheit gehört zu den wichtigen Annahmen der Humanistischen
Psychotherapie, damit tritt sie in deutlichen Gegensatz zu der Annahme
unbewusster Kräfte in der Modellbildung der Psychoanalyse. Ausgegangen
wird immer von dem, was da ist, es gehört nicht zum Modell, nach
etwas Verborgenem zu suchen, nach etwas Tieferem unter der Oberfläche,
nach unbewussten oder verdrängten Inhalten. Es gibt eher verschiedene
Formen von Bewusstheit: etwas kann ganz klar sein oder eher vage am Rand
des Bewusstseins oder vorerst implizit (nach Gendlin) und konfiguriert
sich erst/wird explizit, wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf richte.
Subjektives Erleben
und subjektive Bedeutungsbildung der Person stehen im Mittelpunkt, es
kann kein objektives Wissen einer Person über jemand anderen geben.
4. Der Mensch
ist in der Lage zu wählen und zu entscheiden. Unabhängig
von der Diskussion, ob der menschliche Wille frei ist, ist die Möglichkeit
der Wahl ein phänomenologisches Faktum. Dadurch kann der Mensch
sein aktuelles So-Sein, den aktuellen Zustand überschreiten und
sich wandeln.
Da hören wir
das optimistische hoffnungsfrohe Menschenbild, das der Humanistischen
Psychotherapie zugrunde liegt: wir können uns ändern, in uns
angelegt ist die Möglichkeit der Wahl, wir können erkennen,
was wir tun, wir können Unterschiede machen, wir können Alternativen
entwerfen und uns aktiv entschieden, gestaltend auf unser Leben einwirken
und unser Potential nutzen. Wir sind keine Opfer, nicht hilflos, wir haben
in einem gewissen Freiheitsspielraum eine Wahlfreiheit. Selbstverantwortlich
wählen wir, wohin wir wollen und was wir dazu lernen können.
Wandel ist unvermeidbar, das Leben ist ein Prozess, Entwicklung ist ein
positiv besetzter Wert. Der Mensch ist Gestalter seiner eigenen Existenz.
5. Der Mensch
lebt intentional (zielgerichtet und zielorientiert). Der Mensch lebt ausgerichtet
auf Ziele und Werte oder hat eine gerichtete Orientierung, die
einen Tel seiner Identität bilden. Diese Gerichtetheit kann
klar, komplex oder paradox sein, sie wird jedoch als ein spezifisch menschliches
Merkmal gesehen.
Das ist eine wichtige
Annahme in humanistischen Denkmodell: es gibt etwas in uns, eine Kraft,
eine Tendenz (Rogers nannte sie Aktualisierungstendenz in den Individuen
und formative Tendenz im Universum), die wachsen und sich entfalten will,
die auf etwas zu leben will. Diese Tendenz ist allen lebendigen System
eigen, die Umwelt kann dabei hinderlich oder förderlich sein.
Das ist die einzige
Antriebs- und Motivationsquelle, die dieser Ansatz kennt. In der Bedürfnis-Hierarchie
nach Maslow finden wir nicht nur Grundbedürfnisse zur Homöostase
(Hunger, Durst, Sicherheit, Sozialkontakte, Bestätigung), sondern
auch das Bedürfnis nach Wachstum und Selbstverwirklichung. Grundsätzlich
ist der Organismus vertrauenswürdig, er muss nicht erzogen, reglementiert
oder sozialisiert werden.
- Psychotherapie
und die therapeutische Beziehung
Rogers formulierte
das einmal so: "Diese humanistische personenbezogene Konzeption ist
uns inzwischen so vertraut geworden, dass wir manchmal vergessen, welch
eine Provokation sie für die damals gängigen Auffassungen darstellte.
Ich brauchte Jahre, um zu erkennen, dass der erbitterte Widerstand gegen
eine klientenzentrierte Therapie nicht nur auf deren Neuheit und die Tatsache,
dass sie von einem Psychologen und nicht von einem Psychiater ausging,
zurückzuführen war, sondern in erster Linie darauf, dass sie
der Macht des Therapeuten einen so ungeheuren Schlag versetzte. Ich behauptete,
dass der Mensch selbst seine Fähigkeiten und seine Fehlanpassungen
herausfinden könnte. Diese Ansicht ist bedrohlich für Leute,
die sich für Experten halten"
Und später:
"niemals
habe ich Psychotherapie oder Gruppenerfahrung als erfolgreich betrachtet,
wenn ich versuchte, in einem anderen Individuum etwas hervorzurufen, was
nicht in ihm vorhanden war"
Wie handle ich also
aus diesem Menschenbild heraus, aus dieser inneren Einstellung heraus,
wenn Menschen zu mir in die Therapie kommen? Ich versuche das kurz aus
der Sicht der Klientenzentrierten Therapie, in der ich mich am besten
auskenne, zu formulieren:
Wichtig sind nicht
so sehr Techniken, sondern meine Haltung. Die Beziehung ist wirksam, sie
ist Therapie. Im Klienten, in der Klientin ist das Potential vorhanden,
etwas über sich zu wissen und sich ändern zu können. Nicht
ich als Begleiterin bin Expertin für die Heilung, die Weiterentwicklung
dieser Person. Ich verzichte auf Machbarkeitsvorstellungen. Ich bin nicht
interessiert an Störungen, an Diagnosen und Prognosen, an der Ätiologie,
an der Vergangenheit.
Ich bin "lediglich"
Anbieterin einer wachstumsfördernden Beziehung und kann lernen, wie
mein Beziehungsangebot gestaltet sein kann, damit das, was in einer Person
angelegt ist, wieder wachsen kann.
Rogers beschrieb drei
Grundhaltungen:
Empathie:: ich versuche, das, was mir mein Klient erzählt
und zeigt, in seinem Bezugsrahmen zu verstehen. Nicht wie ich es verstehe,
sondern wie er es versteht. Ich versuche, meine Einfühlung so zu
richten, dass ich so nah wie möglich an die Art und Weise herankomme,
wie jemand in seiner Welt lebt, so gut es mir eben gelingt. Das klingt
einfach, ist aber bei Personen, die meiner Welt fern sind, sehr schwer.
Akzeptanz
Ohne Bedingungen zu
stellen, "leichtgläubig", akzeptiere ich, wie es bei dieser Person
ist. Das heisst nicht: einverstanden sein. Aber trotzdem ist immer diese
innere Haltung da: aha, so ist das in dir entstanden, erzähl mir,
ich will verstehen, worum genau es geht.
Kongruenz:
Ich bin kein alter ego, kein Spiegel, keine Papagei-Karikatur, ich habe
Zugang zu meinem eigenen inneren Erleben, bin mit mir in Kontakt mit dem,
was in mir läuft in Bezug auf unser gemeinsames Projekt, in Bezug
auf unsere Beziehung. Ich bin jederzeit bereit, das auch mitzuteilen,
wenn es dem Prozess dient. Ich bin selber Person, "von Person zu Person"
bin ich präsent, gegenwärtig.
Diese "korrigierende
Beziehung" kann der Person dazu verhelfen, sich nicht abgewertet zu fühlen,
selber akzeptieren zu können, was vorher nicht möglich war,
auf die Suche zu gehen nach Gefühlen oder Themen, die bedrohlich
oder fremd waren. Wahrhaftigkeit zu erleben in diesem realen Kontakt,
Selbstbegegnung in einer Begegnung: das ist heilsam.
Eins meiner Lieblingszitate
möchte ich noch zitieren: Es stammt von Rogers und heisst :"Die erste
Bedingung zum Zuhören ist Mut". Wenn ich auf die oben beschriebene
Art in einer Beziehung anwesend bin, werde ich verändert. Es gibt
einen wechselseitigen Prozess von Entwicklung und Veränderung.
G. Die humanistische
Psychotherapie heute, Kritik und Verdienst
Aus heutiger Sicht
möchte ich drei Kritikpunkte anführen.
1. Der sogenannte
Psychoboom
Eugene Gendlin schreibt:
"Die Encounter-Bewegung
und alles, was zu ihr geführt hat, hat zweifellos unsere Gesellschaft
verändert. Heute kann man ganz gewöhnliche Leute über inneres
Erleben und zwischenmenschliche Beziehungen auf eine Weise sprechen hören,
wie bis dahin nur PsychologInnen und KlientInnen gegen Ende der Therapie
gesprochen haben...."
Allerdings hat das
"human potential movement" in seinem ungeheuren Variantenreichtum auch
unsinnige Blüten getrieben. Die sprunghafte angestiegene Nachfrage
nach Wachstumserfahrungen hat einen Markt entstehen lassen, der von ernsthafter
Selbsterfahrung bis zu krimineller Scharlatanerie reicht.
Verwechslungen, die
ich für bedenklich halte, kann ich wiederum an "Heilswörtern"
festmachen:
Kongruenz/Authentizität:
Das Ringen um diese Werte kann zu distanzloser Selbstdarstellung führen,
zu einem Ehrlichkeitstrip ( Hauptsache, ich sage die =meine Wahrheit),
zu einer unsinnigen Seelenentblössung..
Individuum:
"das ist Dein Problem, nicht meins" negiert den Pol der Beziehungsangewiesenheit
Selbstverwirklichung:
Egotrip und narzisstische Nabelschau haben nichts mehr zu tun mit der
Verwirklichung des Potentials, wie es ursprünglich formuliert wurde
Hier und Jetzt:
das Primat der Gegenwart kann auch ahistorisch, unverbindlich und kaum
eingebunden in den zeitlichen Kontext verstanden werden
Das wahre Selbst:
das "innere Kind", die Suche nach dem richtigen Kern kann einen Opferstatus
heraufbeschwören, die Idee, ein Recht auf Wiedergutmachung zu haben,
eine endlose Suche.
2. politische
Kritik
Immer wieder wird
zu Recht kritisiert, dass humanistische Therapieformen auf die gebildete
reiche amerikanische Mittelschicht beschränkt sind, auf die, die
es sich leisten können, so auf die innere Suche zu gehen. Wo bleiben
andere Schichten, andere Kulturen?
Der Amerika-typische
pragmatische nachdrückliche Individualismus betont zwar die Einzigartigkeit
und Eigenverantwortlichkeit des Individuums, degradiert aber die "Umwelt"
(und damit auch die anderen Beziehungen und das gesellschaftliche Feld)
zu einem günstigen oder ungünstigen Nährboden für
die Entwicklung der Einzelperson.
Der Vorwurf von Buber,
die humanistische Psychologie individualisiere den Menschen, aber humanisiere
ihn nicht, ist bedenkenswert.
Erst vereinzelte Stimmen
sind zu hören, die beklagen, dass die humanistische Bewegung nicht
relational, nicht soziozentrisch denkt und dringend umlernen muss.
Wir müssen uns
bei therapeutischer Einflussnahme meiner Meinung nach auch immer fragen,
was denn das zugrundeliegende Menschenbild für StaatsbürgerInnen
"erzeugt": angepasste? rebellische? dialogfähige? egoistische, die
in ihren persönlichen Geschichten baden? Stimmt es, dass jede Gesellschaft
die Psychotherapie hat, die sie verdient? Wir können die Frage auch
umdrehen: Was braucht unsere Gesellschaft für Menschen? Wozu sollen
sie befähigt werden? Und was kann die Psychotherapie dazu beitragen?
Einen gravierenden
Mangel des human potential movement beschreibt
Gendlin:
"Die Bewegung
der Encounter-Gruppen verkümmerte und ging ein, weil es uns nicht
gelang, Strukturen sozialer Institutionen zu schaffen, in denen man in
und mit dieser neuen Welt innerer Komplexität hätte leben können.
Sie schuf keine Fortsetzung, keine beständige Kultur der Begegnung
oder Verbindung, die sich in das übrige gesellschaftliche Leben eingefügt
hätte...Der Mangel an neuen sozialen Mustern verschattet heutzutage
die Zukunft der Humanistischen Psychologie"
3. ökologische
Kritik
Wenn wir den Blickwinkel
über die menschliche Gesellschaft hinaus ausdehnen, können wir
uns nicht nur fragen, was es denn für StaatsbürgerInnen braucht,
sondern auch, ob es nicht um WeltbewohnerInnen gehen müsste!
Die Verantwortlichkeit
der humanistischen Psychotherapie hört in der Regel bei der menschlichen
Gemeinschaft auf. Es gibt keinen Gedanken an die Erde, an das Gesamtuniversum,
an die nichtmenschlichen MitbewohnerInnen. Immer noch denken die meisten
VertreterInnen der Humanistischen Psychologie anthropozentrisch: der Mensch
ist der Mittelpunkt des Denkens und Erlebens. Dabei ist heute nicht mehr
die Umwelt feindselig, sondern wir schaden der Umwelt! In den gängigen
Diagnoseschlüsseln wird "nicht eine einzige Krankheit oder Störung
des seelischen Gleichgewichts verzeichnet, die Verrücktheit in irgendeine
Beziehung zur nichtmenschlichen Natur stellt" (Roszak )
Auch humanistische
PsychologInnen "ignorieren die grössere ökologische Realität,
die die individuelle Psyche umgibt, so als könnte die Seele gerettet
werden, während die Biosphäre zusammenbricht" (Roszak).
Die Rebellion gegen
den Reduktionismus endet ohne Sensibilität für die nicht-menschliche
Welt, der Begriff "Wachstum" wird selten kritisch hinterfragt.
Nun abschliessend
noch ein paar Worte zum Verdienst und damit auch zum heutigen gesellschaftspolitischen
Stellenwert.
Die humanistische
Psychotherapie hat im Moment einen schweren Stand. Geld - und Anerkennungsfragen
belasten die Praktikerinnen in der heutigen managed care und WZW-Gesellschaft.
Zulassungsreglementierungen und Ausbildungseingrenzungen erlauben fast
keine freie Wahl mehr, humanistische Therapierichtungen fallen häufig
aus dem Gesetz heraus, ihr Weiterbestehen ist ernsthaft in Frage gestellt.
In den USA geht das managed care system weit hinter die Errungenschaften
der Humanistischen Psychologie zurück, für die sie damals gekämpft
hat. Parallel dazu wachsen die quasi-therapeutische Gegenkultur und die
Esoterik.
Vorwürfe, die
Humanistische Psychologie sei zu wenig wissenschaftlich und nicht abgegrenzt
genug gegenüber der Transpersonalen Psychologie (der "Vierten Kraft").
blockieren die Entwicklung.
Dabei hat die Humanistische
Perspektive auch heute noch einiges zu bieten:
Mut zur Transdisziplinarität
Sie war immer schon
interdisziplinär, Alternatives hatte Platz, psychosoziale, psychosomatische
und psychospirituelle Zugänge wurden erforscht und erprobt, es wurde
fächerübergreifend gedacht.
Mut zum holistischen
Denken
Der Ansatz ist nahe
bei systemtheoretischen Anliegen, beim Arbeiten mit der Vorstellung des
"Holons" (Koestler), dass etwas nämlich immer ein Teil von etwas
ist und gleichzeitig ein Ganzes. Die Selbstgrenzen können erweitert
werden, die hartnäckige Erziehung, wir seien separate Einzelwesen,
kann abgebaut werden.
Mut zur Demokratisierung
Nicht Lizenzen und
Diplome sollten zählen, sondern Fähigkeiten, Wachstumserfahrungen
zu vermitteln und zu fördern. Der Ansatz stand ein für die Demokratisierung
der Psychologie: auch für die sogenannten Gesunden, die an Weiterentwicklung
und Entfaltung des Potentials interessiert waren, die sich selber verstehen
wollten und die Rolle, die sie in Gesellschaft und Universum spielen könnten,
war die Therapie vorgesehen. Die Humanistische Psychologie sah sich unabhängig
von der Medizin, verfolgte salutogenetische und aufklärerische Ansätze,
hatte durchaus einen emanzipatorischen Fokus, einen Bildungsauftrag.
Viele humanistische
PraktikerInnen und TheoretikerInnen überlegen sich heute, ob sie
sich wieder im Kampf engagieren sollen wie damals vor 40 Jahren. Der Aufruf
eines englischen Kollegen am Kongress der klientenzentrierten PsychotherapeutInnen
im Juli 1997 in Lissabon klingt ähnlich kämpferisch:
"Wessen Spiel
spielen wir? Beabsichtigen wir, unseren Platz auf der therapeutischen
Bühne zu gewinnen, den Glanz und die Billigung durch die Regierung
mit den kognitiven Behavioristen, den pharmakologischen Experten und,
wo sie immer noch Glaubwürdigkeit besitzen, mit den Analytikern und
psychodynamischen Praktikern zu teilen? Ist es das, wofür unsere
Forschung letztendlich steht - Glaubwürdigkeit in den Augen derer
herzustellen, die die Tonart bestimmen und die Rechnung zahlen? Die Frage
ist natürlich , ob wir dies tun können, ohne unsere Seele zu
verlieren, wenn man mir diese spirituelle Metapher verzeiht. Es ist offensichtlich,
dass die meisten von uns mit Aufgaben beschäftigt sind, die, wie
uns scheint, wenig Gemeinsamkeiten haben mit der sogenannten Psychotherapie,
die von Krankenkassen und Versicherungen zunehmend verlangt wird.
Könnte es
sein, dass wir unsere Integrität sichern und erhalten müssen
und mit dem Versuch aufhören sollten, die Akzeptanz derjenigen zu
erlangen, die die finanziellen Mittel in der Hand haben und die Macht
ausüben? In meinem Herzen weiss ich die Antwort, aber einer solchen
Stimme zu folgen, würde ein Mass an Mut, Kraft und Glauben fordern,
das wir bis jetzt noch nicht besitzen." (Brian Thorne)
Humanistische Belange
müssen heute neu definiert werden.
Ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass es auch heute notwendig ist, unser Potential als
Individuum zu entfalten, unsere Fähigkeiten zu nutzen und aus innerer
Freiheit zu (nicht mehr Freiheit von) Verantwortung, Engagement
und Mitgefühl für die Welt zu entwickeln, in der wir leben,
die wir gestalten und deren Teil wir sind.
Literatur
zum Witerlesen
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Rogers, ...
vor allem die späten Aufsätze
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Steiner, Dieter,
1998, Humanökologie als Gratwanderung zwischen Mathematik und Poesie,
Abschiedsvorlesung ETH
Stipsitis, R./Hutterer,
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1998, Zum Stand des personzentrierten Ansatzes, in: Brennpunkt 75, S.
10-12
Zygowski, Hans,
1987, Psychotherapie und Gesellschaft. Therapeutische Schulen in der Kritik,
rororo
GFK
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